„Es gibt viele offene Fragen“
Kommission zur Aufarbeitung des Anschlags auf die israelische Olympiamannschaft nimmt Forschungsarbeit auf
Vom 5. bis zum 7. September findet am Münchener Institut für Zeitgeschichte die erste Arbeitstagung der Kommission zur Aufarbeitung des Attentats auf die israelische Olympia-Mannschaft statt. Im Mittelpunkt steht neben der Diskussion der wichtigsten Forschungsfragen ein Workshop mit Vertreterinnen und Vertretern staatlicher Archive und Behörden, um die für die Forschungsarbeit relevanten Aktenbestände vorzubereiten.
Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern und für Heimat: „Ich bin sehr glücklich, dass wir nach all den Jahren nun endlich eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung des Attentats angehen können. Mit der internationalen Historikerkommission konnten wir dafür ausgewiesene Expertinnen und Experten gewinnen, die gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte und dessen exzellenter Forschungsinfrastruktur in den nächsten drei Jahren die Geschehnisse des 5. September 1972, seine Vor- und Nachgeschichte durchleuchten werden. Wir sichern hier als Bundesinnenministerium größtmögliche Unterstützung bei der Aufarbeitung und bei dem Zugang zu staatlichen Akten zu.“
Das Projekt ist auf die Dauer von drei Jahren angelegt. In dieser Zeit sollen die unmittelbare Vorgeschichte, der Anschlag selbst, das Agieren von Sicherheitsbehörden und Politik, die Folgen des Anschlags für die bundesdeutsche Nahostpolitik sowie seine Nachgeschichte auf innenpolitischer und erinnerungskultureller Ebene untersucht werden. Kommissionsmitglied Prof. Dr. Christopher Young von der Universität Cambridge: „Viele offene Fragen gibt es beispielsweise beim nachrichtendienstlichen Austausch im Vorfeld des Anschlags, zum Hintergrund und den Netzwerken der Attentäter sowie zu einer möglichen Unterstützung durch deutsche Links- und Rechtsextremisten. Ebenso muss hinterfragt werden, warum Angebote der israelischen Regierung, eine Eliteeinheit zur Befreiung der Geiseln einzufliegen, abgelehnt wurden, was bei der Entführung einer Lufthansamaschine zur Freipressung der Attentäter geschah und schließlich, welche Folgen München 1972 im Weiteren für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Israel und arabischen Staaten nach sich gezogen hat.“
Besonderes Gewicht wird das Forschungsprojekt der Perspektive der Hinterbliebenen einräumen. Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte: „Der Umgang der deutschen Behörden mit den Opferfamilien hat viele Dissonanzen erzeugt. Wir wünschen uns, dass dieses Forschungsprojekt einen Wendepunkt markiert: Neben dem Studium der archivalischen Quellen soll daher auch die Erfahrungsgeschichte der Hinterbliebenen systematisch sichtbar gemacht werden.“
Kommissionsmitglied Prof. Dr. Shlomo Shpiro von der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv will auch israelische Quellen und Archive in die Forschungsarbeit einbeziehen und erwartet sich davon wichtige Erkenntnisse über die Tathergänge. „Gerade auch in Israel ist die Arbeit der Kommission mit hohen Erwartungen verbunden. Der Anschlag in München ist im Gedächtnis vieler Menschen in Israel fest verankert. Die Arbeit der Kommission ist enorm wichtig − nicht nur, um die Geschichte aufzuarbeiten, sondern auch, um die Terrorbedrohungen und Terrorabwehrmaßnahmen von Heute und Morgen besser zu verstehen und vorzubeugen.“
Welchen Platz der Anschlag in den nationalen Erinnerungskulturen einnimmt, ist auch Thema einer öffentlichen Abendveranstaltung in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am 6. September um 19 Uhr: Unter dem Titel „München 1972: Gespaltenes Gedenken?“ diskutieren Vertreterinnen und Vertreter der Historikerkommission mit weiteren Expertinnen und Experten über den unterschiedlichen Umgang Deutschlands und Israels mit der Erinnerung an das Olympia-Attentat. Um an dieser Veranstaltung auch die israelische Öffentlichkeit, insbesondere die Angehörigen der Opfer des Attentats, teilhaben lassen zu können, wird die Podiumsdiskussion live auf www.badw.de im Internet gestreamt und der Livestream auch simultan ins Hebräische übersetzt.
Zum Hintergrund: Am 5. September 1972 überfielen acht Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September während der Olympischen Sommerspiele in München das israelische Team der Herren. Bei dem Anschlag und im Zuge eines missglückten Befreiungsversuchs durch die bayerische Polizei starben elf Mitglieder der israelischen Olympia-Mannschaft, ein Polizist und fünf Geiselnehmer.
Im April 2023 hat die Bundesregierung ein internationales Forschungsprojekt auf den Weg gebracht: Eine Kommission aus acht international renommierten Historikerinnen und Historikern wurde vom Bundesministerium des Innern und für Heimat damit beauftragt, gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte München–Berlin das Attentat sowie dessen Vor- und Nachgeschichte umfassend wissenschaftlich aufzuarbeiten. Mit der Einsetzung der Kommission erfüllt die Bundesregierung den letzten Teil der mit den Angehörigen der Opfer vereinbarten Gesamtkonzeption zum 50. Jahrestags des Attentats.
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Tina Angerer Tel.: +49 89 4111 501 14 Mail: angerer@ifz-muenchen.de